Zurückgeblättert – die Geschichte unsere Vereins

Zurückgeblättert - unsere Vereinsgeschichte

Aus Anlass des 200. Geburtstages des MGV Bissingen wollen wir zurückblicken in die Geschichte des Männergesangvereins. Hierzu haben wir unsere Vereinsgeschichte in den zeitlichen Kontext gesetzt und können nunmehr Eintauchen in Chorgeschichte im Wandel der Zeit.

Wir beginnen natürlich mit dem Jahr 1824 – dem Gründungsjahr.

1824 war für Bissingen ein bedeutendes Jahr. Am 1. Advent wurde die neue Orgel eingeweiht als Herzstück des südlichen Erweiterungsbaus der Kirche. Gebaut wurde sie vom ortsansässigen Orgelbauer Johann Victor Gruol und seinen Söhnen, der seine Werkstatt in der späteren Wirtschaft Krone hatte. Und eben jenes Ereignis hatte zentral auch mit der Gründung eines Chores zu tun. Vier Posaunenbläser hatten bis dahin die Gemeinde beim Singen im Gottesdienst begleitet. Diese Posaunenbegleitung war überhaupt nur nötig, weil die Vorgängerorgel, die ihren Platz im Chor der Kirche hatte, eher schauderhaft klang. „Der Organist wie die Gemeinde zitterten bei jedem Choral um ein gnädiges Ende.“ Schuld war aber nicht etwa der Erbauer, der renommierte Orgelbauer Goll aus Weilheim. Bei der Untersuchung des schlechten Klangs der Orgel starrte der Kommission eine „gar grausige Leere“ entgegen, als sie die Orgel öffnete. 80 Pfeifen fehlten, waren gestohlen worden. Zwischen 1750 und 1824 unterstützten also vier Posaunisten den Organisten.

Weil die neue Orgel nun kräftig genug war für die Begleitung des Kirchengesangs, wurde das Posaunenblasen abgeschafft und die Bläser angehalten, zusammen mit anderen sangesbegabten Männern vierstimmigen Chorgesang zu üben und den Kirchengesang zu unterstützen. Schulmeister Reininger übernahm das Einüben der Lieder.

Schon 1827 zählte der Chor 25 Sänger. Dass es sich aber um keinen reinen Kirchenchor handelte wird schon daraus ersichtlich, dass der Chor bereits 1825 Zuweisungen aus der Kommunalkasse erhielt.und 1827 vom Kirchenkonvent aufgefordert wurde, auch Lieder aus dem Gesangbuch einzuüben. Als Übungsraum diente die kleine Ratsstube im alten Rathaus, vielen älteren Bissingern noch als Gemeindekasse bekannt.

Wenn wir heute aus unserem hektischen Alltag heraus auf das Jahr 1824 zurückblicken, sind wir geneigt zu vermuten, dass es sich um eine ruhige und gemächliche Zeit gehandelt haben muss.

Mitnichten! Die vier Posaunenbläser hatten, wenn sie um das Jahr 1800 herum geboren wurden, schon gewaltige Umbrüche miterlebt.Sie kamen noch im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation zur Welt und mussten wie die große Mehrheit der 25 Millionen Deutschen, die auf dem Land lebten, Armut und mittelalterliche Abhängigkeit erdulden (Lehenswesen, Leibeigenschaft, Abgaben an die Grundherren …). Deutschland war eine wirtschaftlich sehr rückständige Region, zersplittert in mehr als 1000 Herrschaftsgebiete mit ebenso vielen Zollstationen.

Die meisten Dorfbewohner erwirtschafteten gerade genug um die eigene Familie durchzubringen. Der Hungertod war eine reale Gefahr. Ein Hagelsturm im Sommer konnte z.B. die ganze Ernte vernichten.

1816 ging als Jahr ohne Sommer in die Geschichte ein, das schlechteste seit Menschengedenken. Im Frühling hatte es fast nur geregnet, die Körner in den Ähren verschimmelten, ebenso die Kartoffeln im Boden, das Heu verdarb, die Reben erfroren. Was die Bauern für Gottes Zorn hielten, war in Wirklichkeit die Folge des Ausbruchs des Vulkans Tambora in Indonesien im April 1815 – der größte Vulkanausbruch seit Beginn der Geschichtsschreibung. Die Tagelöhner, Knechte und Mägde, die ohnehin am Rand des Existenzminimums lebten traf es noch härter, genau wie Millionen Deutsche, die heimatlos und verarmt durchs Land zogen.Viele schlossen sich Ende des 18.Jahrhunderts zu kriminellen Banden zusammen und lebten vom Wildern und Stehlen. „Im Wald da sind die Räuber“.

Manche Räuberhauptleute erlangen eine gewisse Berühmtheit. Sie galten als gerechte Rebellen gegen das verhasste Jagdprivileg des Adels, die die Wildtiere töteten, die ihre Felder verwüsteten.

Der Handel innerhalb Deutschlands war fast nur auf Flüssen möglich, da überörtliche Straßen in oft bedenklichem Zustand waren. Ein Reisender schrieb: “Derart rumpelten die Karossen über die zerklüfteten Landstraßen, dass Leib und Seele Gefahr liefen, voneinander getrennt zu werden.“

Auch politisch änderte sich viel für unsere vier Posaunisten. 1803 schlug sich Württembergs Landesherr auf die Seite Napoleons und wurde zum Kurfürsten und 1806 gar zum König von Württemberg befördert. Von der Bevölkerung wurde das teuer bezahlt, mussten doch 16 000 Soldaten, darunter 11 Bissinger, für Napoleons Russlandfeldzug abgestellt werden, was einem Todesurteil gleichkam.

In den Befreiungskriegen gegen Napoleon kam ein neues Gefühl auf:

Zum ersten Mal sahen die Deutschen sich als gemeinsames Volk. Doch die bürgerlichen Hoffnungen auf einen liberalen Nationalstaat erfüllten sich nicht. Die deutschen Fürsten stellten die alte Ordnung wieder her. Alle Arten von Zusammenschlüssen wurden in der Folgezeit misstrauisch beäugt (vgl. Karlsbader Beschlüsse 1819). So gesehen war ein Chor, wie der neu entstandene in Bissingen aus einem kirchlichen Anliegen heraus gerade noch akzeptabel.

Dass die Bissinger es fertigbrachten inmitten all dieser turbulenten Ereignisse einen so aufwendigen Umbau ihrer Kirche zu stemmen mit den bekannten Folgen für die Gründung eines Männerchores, verblüfft noch heute.

Heute soll es um den weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts in Bissingen gehen, nachdem wir im ersten Teil den Gründungszeitraum näher betrachtet haben.

Neben den Informationen, die wir vom Vereinsgeschehen selbst haben, werden uns folgende Fragen beschäftigen: Wie ging es den Bissingern wirtschaftlich? Warum wurden im 19.Jahrhundert so viele Männergesangvereine gegründet, nicht aber gemischte Chöre aus Männern und Frauen? Welche Lieder wurden gesungen bzw. welche Rolle spielte der Zeitgeist bei der Liedauswahl?

Das durch und durch landwirtschaftlich geprägte Bissingen verzeichnete im Verlauf der ersten Hälfte des Jahrhunderts einen Bevölkerungsrückgang, der teilweise mit den schlechten Witterungsbedingungen erklärt werden kann. Hinzu kam, dass 1845 die Kartoffelfäule (eine Pilzerkrankung) aus Amerika eingeschleppt wurde. Das führte vielerorts zu einem Totalausfall der Kartoffelernte. In den Folgejahren wurde es nicht viel besser. Hunger und Teuerung hielten Einzug. Bezeichnend die Worte einer Mutter aus Owen: „Ich weiß mir bald nimmer zu helfen über den Hunger meiner Kinder, die zehnmal am Tag nach Brot schreien und kaum einmal am Tag kann man ihnen ein Stücklein geben. Durch Unwetter sind unsere Felder verhagelt. Wir haben ein Mißjahr mit Ernteausfall, die Viehställe sind ausgestorben, die Fruchtböden leer.“

Aus dieser misslichen Lage heraus sind die Auswanderungswellen im ganzen Land zu erklären. Hauptziel waren ab 1830 die Vereinigten Staaten. Auch nachdem die Industrialisierung in Gang kam ( Kirchheim erhielt 1865 eine Eisenbahnanbindung, allerdings als Privatbahn), stieg die Bevölkerungszahl in Bissingen nicht wie andernorts an. Manfred Waßner erklärt sich das im neuen Heimatbuch damit, dass trotz hoher Geburtenraten viele Bissinger in umliegende Gemeinden mit besseren Arbeitsperspektiven umzogen (Kirchheim, Dettingen, Oberlenningen).

Man darf auch nicht vergessen, dass die Säuglings- und Kindersterblichkeit in jenen Jahren hoch war.

Trotz dieser wirtschaftlich schwierigen Lage kann man das 19.Jahrhundert als ein Jahrhundert der Vereinsgründungen bezeichnen. Im kulturellen Bereich waren das hauptsächlich Männergesangvereine. Warum aber keine gemischten Chöre, die heutzutage eine große Rolle spielen?

Die Antwort können wir zum Beispiel im Artikel „Vergessene Frauen“ im Feuilleton des Teckboten vom 7. März nachlesen. Hier wird dargelegt, dass Künstlerinnen im Barockzeitalter anerkannt waren und zum Teil wesentlich höhere Erlöse für ihre Gemälde erzielen konnten, als der heute als Star der Kunstgeschichte geltende Zeitgenosse Rembrandt. Frauen als Personen der Öffentlichkeit passten jedoch im 19.Jahrhundert nicht ins Bild. Die Rolle der Frau sah die Gesellschaft des 19. Jahrhunderts am heimischen Herd. Künstlerische Leistungen von Frauen wurden von den Kunsthistorikern schlicht außer Acht gelassen.

So kamen Frauen bei sämtlichen Vereinsgründungen im 19. Jahrhundert, egal ob in kulturellen oder anderen Bereichen, schlicht nicht vor. Es passte nicht ins Rollenklischee.

Im 19. Jahrhundert waren als Folge der Befreiungskriege gegen Napoleon starke Bestrebungen nach einer nationalen Einheit wirksam, die dann mit dem Paulskirchen Parlament 1848 ihren ersten aussichtsreichen demokratischen Versuch starteten, der aber scheiterte, weil der preußische König sich nicht dazu herabließ, Staatsoberhaupt von Volkes Gnaden zu werden.

Karl Paff, dessen Name unser Sängergau trägt, hat schon früh die Aufgabe der Sängerbewegung auch als soziale und politische interpretiert, als einen Beitrag zur deutschen Einigung. Auf dem 1.Schwäbischen Liederfest in Plochingen 1827 war er , gerade 32jährig einer der Hauptredner und äußerte die Hoffnung, dass dieses und künftige Feste die Söhne eines Vaterlandes einander immer näher bringe. 1849 gründeten die südwestdeutschen Gesangvereine unter seiner Leitung den Schwäbischen Sängerbund. Sein Wunsch war schon damals ein Deutscher Sängerbund, der 1862, vier Jahre vor seinem Tod, tatsächlich zustande kam und damit

9 Jahre vor der von Bismarck eingefädelten tatsächlichen deutschen Einheit 1871 unter Kaiser Wilhelm I. Das hohe gesellschaftliche Ansehen des Militärs, das in Preußen eine lange Tradition hatte, griff nun auch auf die süddeutschen Länder über, besonders als 1888 Kaiser Wilhelm II. an die Macht kam, der eine aggressive auf Expansion ausgerichtete Außenpolitik betrieb.

Spiegelten sich nun die genannten gesellschaftlichen Strömungen im Liedgut des Bissinger Männergesangsvereins wieder? Die ältesten Liederbücher, die im Archiv des MGV zu finden sind, stammen aus dem Jahr 1889. Sie sind übrigens alle von den Sängern selbst von Hand geschrieben und zeigen ein anderes Bild. Der weit überwiegende Teil des Liedguts, z.B. „Abschied von den Alpen“, „Ihr Berge lebt wohl“, „ Still ruht der See“, „Das Mädchen und das Röslein“, „Schwäbisches Hauslied“

und viele weitere ähnliche Lieder enthalten also eher spätromantisch-ästhetische Elemente als zeitgeistliche, die ein einziges Lied nahelegen:“ Ein Sohn des Volkes will ich sein“. Es geht also, wie Prof. Borst es in der Festschrift zum 100jährigen Bestehen des Karl-Pfaff-Gaus ausdrückte, um „die bloße, unschuldige Liebe am Singen selbst“ oder um den ursprünglichen Gedanken, die Liebhaber des Gesangs zu vereinen und Talente für den Gesang zu wecken und auszubilden.

Im Übrigen spiegeln die Nachrichten vom Ende des Jahrhunderts die alltäglichen Aufgaben und Sorgen eines Vereins wieder, wie sie auch heute noch bestehen. Findet sich eine Vorstandschaft oder ein Chorleiter?

1894, nur ein Jahr nach dem Beitritt zum Teckgau-Sängerbund, konnten keine Singstunden abgehalten werden, da der Verein ohne Chorleiter war.

1895 wurde unter der Leitung von Uhrmacher Sigel der Singstundenbetrieb mit 12 Sängern wieder aufgenommen. Oftmals erklärten sich örtliche Lehrer bereit, den Chor zu dirigieren. Wurden sie allerdings versetzt, begann die Suche erneut.

Aber immer wieder fanden sich Männer, die sich aus Freude am gemeinsamen Singen neu aufrafften und damit bewirkten, dass der Gesangverein weiterhin Bestand hatte.

Heute wollen wir die Entwicklung des Männergesangvereins in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in den Blick nehmen. Nun kommen Namen von Chorleitern ins Spiel, die viele Bissinger noch aus den Erzählungen der Großeltern und Urgroßeltern über ihre Schulzeit kennen, z.B. Lehrer Schwarzkopf, der ab 1905 den Chor leitete und später sogar Gauchormeister wurde. Er ist auf dem ersten Vereinsfoto, das 1906 von den aktiven Sängern gemacht wurde, mit abgebildet.

Schon zwei Jahre später beschlossen die Bissinger Sänger, in nächster Zeit nicht mehr aktiv zu sein. Nach wenigen Jahren begann dann die erste große Katastrophe im 20. Jahrhundert: der erste Weltkrieg, in dem Bissingen einen überproportional hohen Blutzoll zahlen musste.

1919, ein Jahr nach Kriegsende wurde der alte Gesangverein wieder ins Leben gerufen. Gerade in den Turbulenzen der Nachkriegszeit war sicher der Wunsch nach einer Verortung des Einzelnen in der alltäglichen Normalität des Vereinslebens groß. Als Dirigent konnte Herr Hauptlehrer Zizelmann gewonnen werden. Auf seinen Wunsch hin wurden sogar zwei Singstunden pro Woche abgehalten. Auf Vorstand Wilhelm Hummel folgte 1921 Gottlob Blocher. Der Verein konnte die Anschaffung eines Harmoniums stemmen. Es entwickelte sich ein reges Vereinsleben mit Besuchen umliegender Vereine, mit Ausflügen, mit Feiern, bei denen Gesangsdarbietungen und Theaterstücke auf dem Programm standen.

1923 wurde Lehrer Zizelmann an einen anderen Ort versetzt und Unterlehrer Salber trat an seine Stelle. Schwerwiegender traf aber die galoppierende Inflation das Vereinsleben, da der Beitrag in immer kürzeren Abständen kräftig erhöht werden musste. Wir sprechen hier von Milliarden- und Billionenbeträgen. In ihrer Not beschlossen die Sänger, den Dirigenten in Naturalien zu bezahlen. Jedes Mitglied musste 5 Pfund Äpfel beisteuern.

Mitte der zwanziger Jahre scheint eine positive Stimmung das Land, das kleine Bissingen und die Sänger des Gesangvereins erfasst zu haben.

Am 3.Mai 1925 machte der Verein seinen Ausflug zu Ehren des neuen Dirigenten Schauer nach Rosswälden. Mit 6 Leiterwagen konnte die Sängerschar mit ihren Angehörigen bei bestem Wetter und ebensolcher Stimmung abfahren, voran die Musik. „Mit schönen fröhlichen Weisen wurde an jenem Tag der Frühling begrüßt“.

Neben der Beschaffung der heutigen Vereinsfahne nebst der dazugehörigen Fahnenweihe hielt das Jahr 1926 noch einen weiteren Höhepunkt bereit.

Der Verein beteiligte sich am 12. August an der Begrüßung der Deutsch-Amerikanerin Gertrud Ederle, die als erste Frau den Ärmelkanal durchschwommen hatte und den Heimatort ihrer Eltern besuchen wollte.

1927 hatte der Chor nahezu 40 aktive Sänger, beteiligte sich am ersten Chorsängerfest des Teck-Neckar-Gaus in Plochingen, nahm erstmals an einem Preissingen teil und wurde mit einem zweiten Preis in der Klasse 1b belohnt. Viele weitere Veranstaltungen mit den anderen Bissinger Vereinen lassen auf ein harmonisches Vereinsleben schließen.

1929 kam es zu Unstimmigkeiten, die einen Blick auf das Selbstverständnis der damaligen Vereinsgemeinschaft zulassen. Nach dem Besuch der Fahnenweihe am 14. Juli in Owen kehrten nicht alle Mitglieder mit der eigenen Vereinsfahne nach Hause zurück. Dies muss Vorstand Merkle so aufgeregt haben, dass er daraufhin sein Amt niederlegte.

Das Jahr 1930 war für Bissingen ein Jahr des erbitterten Streits, der in alle Vereine hineinreichte. Der Grund war die Bürgermeisterwahl, die viele Bissinger gegeneinander aufbrachte. Bürgermeister Berner, der schon seit 1910 amtierte, wurde von den Unterstützern seines Konkurrenten Armbruster eine einseitige Bevorzugung der Bessergestellten, wie z.B. der Geschäftsleitung der Firma Kolb&Schüle vorgeworfen. Diese hatte in Folge der Weltwirtschftskrise 1929 fast die Hälfte der Belegschaft entlassen müssen. Es entstand eine regelrecht feindselige Haltung der jeweiligen Unterstützer und BM Berner wurde dann auch abgewählt. Innerhalb des Vereins kam es zu heftigem Streit und Gehässigkeiten, die dazu führten, dass das Singen und das Vereinsleben zum Stillstand kamen. Es wurde beklagt, dass „nach 10 Jahren schönster Harmonie, getragen von einer starken, willigen und opferfreudigen“ Vorstandschaft es nun zu so einem Zerwürfnis kam. Erst am Jahresende waren die Wogen unter neuer Vorstandschaft einigermaßen geglättet.

1933 brachte mit der Machtergreifung Hitlers auch in Bissingen viele Veränderungen. Die Vereine wurden auf Linie gebracht. Der Vaterlandsliedertag musste besucht werden. Der Vorstand hieß nun Vereinsführer. Ab 1935 fanden die üblichen Monatsversammlungen nicht mehr statt. Der Singstundenbesuch wurde immer bescheidener, „da die Sänger anderweitig beschäftigt wurden“. 1934 und 1935 wurde von einer Weihnachtsfeier abgesehen und stattdessen mit dem Albverein eine Winterveranstaltung abgehalten. Das Vereinsleben erodierte gewissermaßen. 1936 konnte nur mit Mühe ein neuer „Vereinsführer“ gewonnen werden. Ab 1937 und natürlich während des II. Weltkrieges und in den Nachkriegsjahren ruhte das Vereinsleben.

Nach dem zweiten Weltkrieg dauerte es länger als nach dem ersten bis das Vereinsleben wieder in Gang kam. Zu groß waren die Wunden, die das Unrechtsregime und der verheerende Krieg geschlagen hatten. Während des Besatzungsvorgangs herrschten zunächst Angst und Anspannung, da ja die Front die Dörfer sozusagen überrollte. Die Bissinger hatten Glück, dass es amerikanische Soldaten waren, die einrückten. Sie verhielten sich der Bevölkerung gegenüber am wenigsten übergriffig, standen aber unter Spannung, weil sie die Propaganda des Naziregimes ja kannten. So kam es hier zwar zu keinen Kämpfen, wohl aber zu einzelnen Erschießungen.

Dennoch war man auch in Bissingen mit vielen Opfern konfrontiert. Mit denen, die ihren Mann, Vater, Sohn im Krieg verloren hatten. Mit aus der Kriegsgefangenschaft heimkehrenden Soldaten, die lieber nicht so viel über ihre Kriegserlebnisse erzählten und einfach nur froh waren, überlebt zu haben. Mit Flüchtlingen, die ihre Heimat verloren hatten und auf der Flucht oft Schreckliches erlebt hatten. Um die Geflüchteten unterzubringen musste man zusammenrücken. Das Geld verlor seinen Wert. Besser dran war, wer Land oder Vermögenswerte besaß.

Bei vielen war zunächst Schmalhans Küchenmeister.

Rückblickend ist es trotzdem erstaunlich, wie schnell die Menschen sich mit den neuen Verhältnissen irgendwie arrangierten. Erstaunlich auch deshalb, weil zuvor landauf landab unzählige Menschen dem Hitlerregime mit beinahe religiöser Inbrunst gedient hatten. In der sogenannten Stunde Null sprang man sozusagen aus einem Bilderrahmen in den nächsten und fühlte sich als Opfer der Umstände.

In dieser Zeit dachte man nicht an Vereinsleben. Man musste den Blick nach vorne richten auf die täglichen Erfordernisse, wie Nahrungsbeschaffung und die Wiederaufbauarbeit und das war vielen gar nicht so unrecht. Gegen Ende der 40er Jahre keimte die Hoffnung auf, dass es irgendwie besser weitergehen würde. Ab den 50er Jahren kann man sogar von einer optimistischen Grundstimmung sprechen. Die Wirtschaftswunderzeit begann. Folgerichtig dachte man hier im Dorf, wie andernorts auch, an die Wiederbelebung der stillstehenden Vereine. Am Freitag, 4. November 1950 war es soweit, die erste Singstunde wurde abgehalten. 45 Sänger waren am Start. Der erste Vorstand war Albert Mühlberger und Lehrer Manfred Keller, auch bekannt als Verfasser des ersten Bissinger Heimatbuches, konnte als Chorleiter gewonnen werden.

Am 27.Januar 1951 fand die erste Veranstaltung im Gasthaus Hirsch statt.

Gäste waren die Sangesfreunde Esslingen. Endlich wieder eine kulturelle Veranstaltung. Der Andrang war so groß, dass gar nicht alle Besucher Platz fanden. Neben der Teilnahme an örtlichen Aktivitäten, wie Kinderfeste, Singen bei Hochzeiten, gemeinsame Wanderungen, wurden zahlreiche Sängerfeste in den umliegenden Gemeinden besucht.

1952 gründete Chorleiter Keller einen Schulchor, der gleichzeitig Kinderchor des Gesangvereins war. Manfred Keller wurde im Juni 1953 in den Kreis Göppingen versetzt. Neuer Dirigent wurde Lehrer Gerhard Buron.

Aus dem Jahr 1953 ist uns auch das erste Foto des MGV nach dem Krieg überliefert.

Im Mai 1954 erfolgte der Vorstandswechsel von Albert Mühlberger auf Karl Ege, der den Verein mehr als zwei Jahrzehnte leiten sollte.

1955 wagte man sich an die Aufführung des Singspiels „Carmen“. Es war ein derart großer Erfolg, dass es noch 3mal zur Aufführung kam. 1957 ging es weiter mit dem „Freischütz“ und 1959 gab es 3 Vorstellungen des Theaterstücks „Präziosa“im jeweils voll besetzten Saal des Gasthauses Krone, die die Theatergruppe unter Leitung von Fritz Bazle aufführte.

Man sieht, kulturell war einiges geboten und das neben dem schon erwähnten Jahresprogramm. Zusätzlich feierte der Verein sein 135jähriges Bestehen mit Festzelt und Heimatabend. Gut, dass man die Arbeit auf viele Schultern verteilen konnte.

Ein besonderer Höhepunkt in den 50er Jahren war die Verleihung der nach dem Krieg erneut durch den Bundespräsidenten Theodor Heuss gestifteten

Zelter-Plakette als Auszeichnung für die in langjährigem Wirken erworbenen Verdienste um die Pflege der Chormusik und des deutschen Volkslieds.

In der ersten Hälfte der 60er Jahre ließ es der MGV nach all den Highlights etwas ruhiger angehen. Bis 1966 war Wilhelm Sigel Chorleiter,

nun trat Dieter Stritzelberger aus Notzingen an seine Stelle.

1967 wurde die neue Schulturnhalle eingeweiht, die ja auch als Festhalle und für Aufführungen genutzt werden konnte. Das war eine nachhaltig positive Entwicklung für viele Vereine. Mehrere Opern- und

Operettenkonzerte mit professionellen Solistinnen und Solisten, darunter aber auch Walter Dettinger als Tenor, der aus den Reihen der Bissinger Sänger stammt, rundeten das Jahrzehnt ab.

Das Jubiläumsfest zum 150jährigen Bestehen des MGV wurde 1974 mit Festkonzert und Festumzug mit geschmückten Festwagen gefeiert.

Zudem fand die Gauversammlung des Karl-Pfaff-Gaus in Bissingen statt.

1976 gab Karl Ege sein Vorstandsamt an Karl Weber weiter.

Im Jahr 1977 fand neben dem Folklorekonzert „Rund um die Welt“ und dem Sommerfest mit Kinderfest am See noch eine denkwürdige Veranstaltung statt: die erste Kelterhocketse rund um die Kelter, die seither ein fester Bestandteil des Bissinger Vereinslebens ist.

Anfang der 80er Jahre bezog die Kirchengemeinde ihr neues Gemeindehaus. Dadurch war der bisher von ihr genutzte Raum in der alten Schule frei. MGV-Vorstand Karl Weber erkannte die Chance, einen eigenen Proberaum für den Männergesangverein zu bekommen. Bürgermeister Arnold Weber und der Gemeinderat standen diesem Ansinnen positiv gegenüber. In unzähligen Arbeitsstunden wurde der Raum durch Mitglieder des MGV umgebaut und 1983 eingeweiht.

In diesem Jahr wurde auch Dieter Stritzelberger verabschiedet, der sein Amt nach 17jähriger Chorleitertätigkeit aus beruflichen Gründen aufgeben musste. Als neuer Chorleiter wurde Hartmut Volz vorgestellt.

Auch 1984 hielt bedeutende Ereignisse bereit. Der Männerchor beteiligte sich mit großem Erfolg am Chorwettbewerb des Karl-Pfaff-Gaus und verfehlte einen der drei ersten Plätze nur knapp.

Am 14. Mai trafen sich Kinder mit Frau Hannelore Rommel, um wieder einen Kinderchor ins Leben zu rufen. Daher feiert der Kinderchor in diesem Jahr sein 40jähriges Jubiläum. 1996 bekam der Kinderchor von seinem damaligen Leiter Bertram Schattel seinen Namen. „Die Kiebitze“, die heute unter der Leitung von Martina Sturm singen, führten seither praktisch jedes Jahr ein Musical auf. Unvergessen bleibt der Auftritt bei der Landesgartenschau in Plochingen 1998. Auch andere Freizeitaktivitäten und Feste kamen in all den Jahren nicht zu kurz. So ist der Kinderchor Kiebitze seit Jahrzehnten ein wertvolles kulturelles Angebot für die Bissinger Kinder.

So manche Teilnehmerinnen und Teilnehmer am kulturellen Leben in Bissingen erinnern sich noch gerne an den 31.Oktober 1986. Da fanden nämlich schon zum zweiten Mal Rundfunkaufnahmen des SDR für die Sendung „Sang und Klang in Stadt und Land“ in der Gemeindehalle statt.

Mit dabei natürlich auch der Männergesangverein.

Auch die folgenden Jahre waren angefüllt mit vielen Höhepunkten, von denen hier nur einige genannt werden sollen, auch um sie den damals Teilnehmenden wieder in Erinnerung zu rufen:

– Kontakte zu den Sangesfreunden Bischweiler mit gegenseitigen Besuchen.
– Jährliche Ausflüge, z.B. an den Vierwaldstätter See oder in Berchtesgadener Land.
– Chorkonzert „Die phantastischen Abenteuer des Don Quijote“.
– Freundschaftssingen der Sängervereinigung „Rund um die Teck“ in Bissingen.

Besonders erwähnenswert ist die Konzertreise vom 29.Sept. – 3.Okt. 1992 nach Balatonalmadi am Plattensee in Ungarn. Diese Konzertreise markiert den Beginn einer freundschaftlichen Verbundenheit mit den ungarischen Chören, die auch Bissingen mehrmals besuchten. 1994 ging es gemeinsam mit dem Chor der Polizeidirektion Esslingen, der ebenfalls von Hartmut Volz dirigiert wurde, zur zweiten Konzertreise nach Ungarn.

Im Herbst 1996 erfuhr der MGV eine Erweiterung, die sich im Rückblick als segensreich erweisen sollte: Die Gründung der Chorgruppe „Frischer Wind“, die ihren Namen den herbstlichen Witterungsverhältnissen zum Gründungszeitpunkt verdankt.

Die Chorgruppe ist ein gemischter Chor, der zunächst, ebenfalls unter der Leitung von Hartmut Volz, moderne Literatur und Schlager einübte.

Mittlerweile ist die Chorgruppe „Frischer Wind“ unter der Leitung von Elisabeth Friedl die tragende Säule des MGV Bissingen.

Eine ganze Kette von Highlights hielt das Jahr 1999 anlässlich der 175- Jahr-Feier des MGV bereit. Neben dem offiziellen Festakt am 22. Februar in der Gemeindehalle mit vielen Gesangsbeiträgen, fand ein großes Konzert im April statt, zu dem auch der gemischte Chor von Balatonfured aus Ungarn beitrug. Vom 11.-13.Juni fanden zunächst am Freitag ein Kinderfest und ein Heimatabend statt, am Samstag dann ein Tag der Jugend im großen Festzelt mit den „musictramps“ und der “ Spider Murphy Gang“. Am Sonntag folgte ein großer Festumzug mit den anschließenden Darbietungen vieler Gau-Chöre im Festzelt. Im November wurde das Jahr mit einem Kirchenkonzert des Männerchores und des St.Josefs-Chores aus Budapest beschlossen.

Das neue Jahrtausend brachte eine Erweiterung des MGV durch einen Teeny-Chor, der von 2008 bis 2013 existierte und ein Versuch war, die vielen Kinder des Kinderchores auch als Jugendliche im Verein zu halten. Chorleiterin war Adina Kolb.

Und wie entwickelte sich der Männerchor in den letzten 25 Jahren?

Schon in der Festschrift zum 100 jährigen Jubiläum des Karl-Pfaff-Gaus 1991 wies der Gaupräsident Prof. Herzinger auf den fehlenden Nachwuchs und die daraus resultierende Überalterung der Männerchöre landauf, landab hin. In Bissingen schieden nach und nach immer mehr Sänger aus Altersgründen aus, ohne dass die Reihen mit jüngeren Sängern aufgefüllt werden konnten. Man versuchte durch eine Fusion mit dem Dettinger

Männergesangverein unter dem Namen „Männerchor Teck“ dem Trend etwas entgegenzusetzen. Letztlich vergeblich. Es blieben aus Bissingen nur noch so wenige Sänger übrig, dass die Aktivitäten gegenwärtig ruhen.

Die durch die Corona-Pandemie ausgelösten Einschränkungen setzten auch dem gemischten Chor „Frischer Wind“ zu. Dennoch gibt gerade die Chorgruppe „Frischer Wind“ Anlass zur Hoffnung. Mit jährlich neu ins Leben gerufenen Projektchören können immer wieder mit der Verstärkung durch die zusätzlichen Projektsängerinnen und -sänger um die sehr engagierte Kerngruppe herum beachtliche Konzerte zustande gebracht werden. Das ist auch der sehr ideenreichen und motivierenden Chorleiterin Elisabeth Friedl zu verdanken, die anlässlich des Jubiläumskonzerts sogar einen Männerprojektchor auf die Beine gestellt hat.

Der Kinderchor „Kiebitze“ erfreut sich auch im vierzigsten Jahr seines Bestehens großer Beliebtheit, nicht zuletzt aufgrund des großen Einsatzes unseres Vorstands Gerhard Flad.

Fazit: Über zwei Jahrhunderte hinweg bot der Männergesangverein Menschen, die Freude am Singen hatten, einen Raum, dies gemeinsam zu tun. Sie und ihre Familien identifizierten sich mit ihrem Verein, brachten sich tatkräftig ein, verbrachten ihre Freizeit miteinander und unterstützten sich gegenseitig. In Zeiten, in denen Einsamkeitsgefühle um sich greifen, schaut man fast wehmütig auf diese Jahre zurück.

Quellen
  • Festschrift zum 100 jährigen Jubiläum des Karl-Pfaff-Gaus, 1991
  • GEO Epoche Nr.79: Deutschland um 1800, 2016
  • Handgeschriebene Gesangbücher des MGV Bissingen, 1889 – 1908
  • Jubiläumsschrift: 175 Jahre Männergesangverein Bissingen a.d. Teck, 1999
  • Keller, Manfred: Bissingen, Heimat zwischen Teck und Breitenstein, 1952
  • Locher, Rudolf: Miar Moiakäfer – Denkwürdiges aus dem alten Owen, 1980
  • Protokolle der Jahreshauptversammlungen und Ausschusssitzungen des MGV Bissingen, 1965 – 2024
  • Waßner, Manfred (Hrsg.): Bissingen an der Teck – 1250 Jahre Geschichte, 2019